1989/90 bis 1997: Das Speziallager Nr. 2 in der öffentlichen Diskussion

Zunehmend wurden 1989/90 Forderungen laut, in der DDR die „weißen Flecken“ der Geschichte aufzuarbeiten. Dazu gehörten auch die sowjetischen Speziallager. Als zu Beginn des Jahres 1990 in Zeitungen über Gräberfunde berichtet wurde, meldeten sich Betroffene zu Wort. Sie schrieben an Redaktionen und Gedenkstätten. Auch die überregionalen Medien nahmen sich des Themas Speziallager an.

Die öffentlichen Debatten der 1990er Jahre kreisten besonders um die historische Funktion der sowjetischen Speziallager. Im Mittelpunkt der teilweise sehr kontroversen Auseinandersetzungen standen Fragen nach der Verhaftungspraxis, der Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft, der Versorgungssituation und den Verstorbenen.

„Inzwischen geht es längst nicht mehr nur um die Beantwortung entsprechender Fragen meiner Mitarbeiter. Täglich erreichen mich Briefe mit der Forderung nach Aufklärung von Sachverhalten zum sowjetischen Internierungslager […]. Damit diese Arbeit nicht zusätzlich durch Gerüchte oder Unwahrheiten belastet wird, ist eine baldmöglichste Klärung unerläßlich.“

Schreiben von Dr. Irmgard Seidel (seit September 1989 Direktorin der Gedenkstätte) an den Erfurter Bezirksstaatsanwalt, 3. Januar 1990 (Auszug)
Buchenwaldarchiv

Zeitungsbericht
Thüringer Allgemeine, 9. Februar 1990
Mediengruppe Thüringen Verlag GmbH

Die Erosion der SED-Herrschaft ermöglichte es den Medien in der DDR, bisher tabuisierte Themen aufzugreifen. Am 31. Januar 1990 informierte Hanno Müller, Journalist bei der „Thüringer Allgemeinen“, die Gedenkstätte über erneute Knochenfunde nördlich des ehemaligen Häftlingslagers. Im Anschluss an ein Gespräch und eine Begehung mit Gedenkstättenmitarbeiter:innen schrieb er einen Bericht für seine Zeitung. Dieser wurde am 9. Februar 1990 unter dem Titel „Zumutbare Wahrheiten“ veröffentlicht.

Video: Hanno Müller im Deutschen Fernsehfunk (DDR) über seinen Artikel „Zumutbare Wahrheiten“, 13. April 1990 (Dauer: 2.42 Min.)

Reporter: Welche Resonanz hatte dieser Artikel?

Hanno Müller: Es kam fast auf den nächsten Tag eine Unmenge von Post, also Briefe über Briefe, es wollte überhaupt nicht mehr aufhören. Ich hab das jetzt hier alles zusammengelegt, das sind also vielleicht an die hundert Briefe und es kommt nach wie vor Post.

Reporter: Und wie könnte man diese Resonanz zusammenfassen?

Hanno Müller: Es gibt einmal zwei große Gruppen. Es gibt zum einen die Angehörigen von ehemals Internierten, die inzwischen verstorben sind oder gar nicht aus dem Lager wiederkamen, die hier das Schicksal ihrer Väter, Großväter, teilweise auch Großmütter oder Mütter mitteilen und mehr oder weniger eine Rechtfertigung verlangen. Und es gibt natürlich einen ganzen Teil von Briefen von selbst ehemals Internierten, [...] die teilweise sehr viele Einzelheiten wiedergeben über das Leben in diesen Lagern und [...] beitragen wollen zur Aufklärung dieser Geschichtsetappe, oder wie immer man das nennen möchte.

Reporter: Besteht nicht die Gefahr, dass aus Tätern nun plötzlich Opfer werden?

Hanno Müller: Wenn Sie die Post der Angehörigen, teilweise auch die Post der Betroffenen nehmen, dann müsste man das Fazit ziehen: Das sind zunächst erst einmal alles Opfer. Ich glaube, man muss hier differenzieren. Die Schwierigkeit besteht wahrscheinlich darin, dass zu dieser Zeit [...] kein wirklicher Nachweis der Schuld stattgefunden hat. Es waren sicher nicht alles Opfer, es waren sicher aber auch nicht alles Täter. Das [...] heute noch nachzuvollziehen, ohne dass man die entsprechenden Unterlagen verfügbar hat, scheint mir äußerst schwierig und scheint mir auch eine äußerste Gratwanderung zu sein.

„Dort oben auf dem Ettersberg. Ein notwendiger Nachtrag“, Deutscher Fernsehfunk/DFF 1, 13. April 1990
Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Dreharbeiten
Dreharbeiten des Norddeutschen Rundfunks in Buchenwald, 30. März 1990
Joachim Siegert, Weimar

Ein Kamerateam des Norddeutschen Rundfunks filmte am 30. März 1990 für die Sendereihe „Panorama“ in Buchenwald. Zu Wort kamen u. a. die ehemaligen Speziallager-Internierten Lisa Dornheim, Ursula Wirsing und Heinz Reuschlein. Ebenfalls dabei waren Heidrun Brauer von der neugegründeten Initiativgruppe Buchenwald 1945-50 e.V. und die Gedenkstättendirektorin Dr. Irmgard Seidel.

Aus dem „Panorama“-Interview mit der ehemaligen Speziallager-Internierten Ursula Wirsing, 3. April 1990

Reporterin: Haben Sie jetzt, auch nach der Wende, noch Angst, über diese Dinge detailliert zu sprechen?

Ursula Wirsing: Ja, immer noch. Und ich habe Verschiedene angeschrieben, die mit mir zusammen waren und habe sie gebeten, [...] das, was sie noch wissen zu sagen, damit wir eben das detailliert aufarbeiten können. Aber die meisten, die wollen das nicht, die haben auch noch Angst.

Reporterin: Wovor haben sie Angst, konkret?

Ursula Wirsing: Ja, dass die Wende keine Wende bleibt.

„Panorama“ (Norddeutscher Rundfunk), 3. April 1990

Zeitungsausschnitte
Debatte um die Ausrichtung der weiteren Arbeit in der Gedenkstätte Buchenwald, 1993/94
Pressesammlung Gedenkstätte Buchenwald

Anfang der 1990er Jahre stand die Gedenkstätte wiederholt im Zentrum öffentlicher Debatten. Dabei ging es neben der Speziallager-Thematik auch um die Neukonzeption der Ausstellung zum Konzentrationslager Buchenwald und die pädagogische Arbeit der Einrichtung.

Vortragsveranstaltung
Diskussion während des 3. Buchenwaldtreffens in der Weimarhalle, September 1993
Gedenkstätte Buchenwald

Die im März 1990 gegründete Initiativgruppe Buchenwald 1945-50 e.V. organisierte zahlreiche Vortragsveranstaltungen in Weimar. In den anschließenden Diskussionen meldeten sich Betroffene zu Wort.

Nachdem russisches Archivmaterial und Fragebögen ehemaliger Insassen bzw. Angehöriger ausgewertet waren, konnte die Gedenkstätte Buchenwald 1995 nähere Angaben zur Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft machen: Im Speziallager Nr. 2 wurden mehrheitlich lokale Funktionär:innen der NSDAP, wie z. B. Block- bzw. Zellenleiter festgehalten, daneben auch Jugendliche und Denunzierte.

Der Thüringer Verein Opfer des Stalinismus e.V. (OdS) erstattete daraufhin Anzeige gegen den Stiftungsdirektor Dr. Volkhard Knigge wegen Volksverhetzung. Das Verfahren wurde im Oktober 1996 eingestellt.

Flugblatt
Flugblatt der VVN-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Aachen, April 1997
Pressesammlung Gedenkstätte Buchenwald

Im April 1997 protestierten etwa zehn Personen gegen die Aufarbeitung der Geschichte des Speziallagers Nr. 2. Unter dem Motto „NS-Stelen auf den Müll“ stülpten sie Müllsäcke über 60 Metallstelen auf den Gräberfeldern und beschädigten zwei Grabkreuze. Die Aktion führte zu einer Welle der Entrüstung. Der ehemalige KZ-Häftling und Vorsitzende des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora Dr. Pierre Durand sprach von einer „untolerierbaren politischen Provokation“. Ähnlich äußerten sich Vertreter:innen weiterer Opferverbände und gesellschaftlicher Institutionen. Die Gedenkstätte erstattete Strafanzeige.

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